Die Stasi und der Punk

Eine wahre Geschichte aus den Wirren der Vorwende- und Wendezeit der DDR. Meine Geschichte ...

Die vorliegende Geschichte ist meine eigene. Ich erzähle die Geschichte, die im Zeitraum 1987 - 1990 spielt. Ich schreibe das heute auf, rund 35 Jahre später. Namen, Fakten und Orte sind aus meiner Erinnerung heraus geschrieben. Vielleicht trügt sie manchmal. Aber das große Ganze stimmt.

Es ist Sommer 1987. In der DDR (Deutsche Demokratische Republik) entstand in den letzten Jahren eine Szene, die immer lebendiger wird, immer mehr aneckt, aber auch irgendwie mehr akzeptiert wird. Bands entstehen, die Punk, Punkrock oder ähnliche alternative Musik in kleinen Jugendclubs, kleinen Bühnen, aber auch auf größeren spielen. Ich war 1987 15 Jahre alt, und verbrachte einen Großteil meiner Zeit in Dresden und im Kreis Großenhain, da in Schönfeld.

Schönfeld ist eine Gemeinde mit damals vielleicht 1000-1500 Einwohnern. Es gibt ein olles Schloss, einen Konsum, eine MTS (Motoren und Traktoren Station). Bürgermeister ist ein Mann um die 40, CDU-Mitglied.

Der Bürgermeister bietet der Dorfjugend an, einen Jugendklub einzurichten. Der Deal: Die Jugend baut mit, und die Gemeinde besorgt Baustoffe und hilft nach Kräften. Deal!

Wir bekommen ein Gelände im ehemaligen alten Kindergarten zugewiesen. Von dem steht noch die alte Pappbaracke. Abreissen und massiv neu bauen - das ist der Plan.

Die Dorfjugend besteht damals aus 20-30 Jugendlichen. Es gibt Freundschaften in die nächsten 5 Orte, bis etwa nach Großenhain. Und ein großer Teil dieser Jugendlichen steht auf Punk, Punkrock, Metal und sonstige Gitarrenmucke. So werde ich auch zum Punk. Lederjacke, Haare hoch. Übrigens: Haare hoch frisieren mit Ossi-Rasierkreme ist eine blöde Idee, sollte es regnen …

Punks haben Spitznamen. Und die müssen möglichst cool, ekelhaft, oder beides sein. In der DDR hängen kleine Alu-Blechmarken an den Mülltonnen. Diese bezeugen, dass die Müllabfuhr die Tonne leeren soll. Diese Marken kann man einfach klauen. Und diese Marken sehen in jeder Gemeinde irgendwie anders aus. Ich hänge meine Lederjacke voll mit diesen Müllmarken, die meine Kumpels von überall her mitbringen, und der Spitzname ergibt sich von selbst: Mülltonne. Schnürstiefel brauche ich noch. Die BGH (Bäuerliche Handelsgenossenschaft) im Nachbarort Lampertswalde hat welche in meiner Größe. Jugendlich naiv denke ich so: “Ich bin ein Punk”.

Punks sind musikalische Wesen. Sie gehen auf Konzerte, hören gern Musik, ihre Musik: Punk! Die Welle ist Anfang der 80er Jahre auch in der DDR angekommen. Am Anfang bekämpfen Stasi (Ministerium für Staatssicherheit, der Geheimdienst der DDR), Polizei und Gesellschaft die Punks noch sehr aktiv, aber irgendwann Mitte der 80er arrangiert man sich mit dieser Stilrichtung. Man findet es nicht cool, man drangsaliert Punks wo immer möglich, lässt sie auch durch die Stasi beobachten, infiltriert Bands und Fangruppen. Aber es ist irgendwie aushaltbar als Punk in der DDR.

Wir fahren auch zu diversen Konzerten. Meist nach Großenhain oder Radebeul. Da gibt es die “Eule”, und im Sommer Konzerte in der “Tonhalle”. Auch nach Dresden geht es einmal zu den Skeptikern. Die spielen im Hygienemuseum. Der Saal ist bestuhlt, und die Jungs mühen sich vor rund 50 Leuten ab. Die Bands, die wir in Schleife hören und besuchen: Die Skeptiker, Die Art, Die Anderen, Die Firma, Feeling B, Kaltfront, Sandow, Big Savod And The Deep Manko u.v.a.m.

Und wir beschließen zu sechst: Lasst uns ne Punkband gründen. Der Name ist schnell gefunden: Pudding mit Sirup. Und der erste Hit heißt Konsumbrot.

Konsumbrot, Konsumbrot, du schönes hartes Konsumbrot

Das war’s, mehr ist da nicht. Wir trommeln auf den alten Klos in der Pappbaracke vom Kindergarten in Schönfeld. Und wir schreien die Textzeile als Maxiversion in die Nachbarschaft. Wir sind glücklich. Noch zwei, drei mal proben und wir sind jetzt schon cooler als Joy Division und The Clash zusammen.

Wir sind aber auch Mitglieder der FDJ (Freie Deutsche Jugend). Das ist die allgegenwärtige Jugendorganisation der DDR, und man kann sich ihr nur schwer entziehen. Man ist mehr oder weniger verpflichtend Mitglied. Und wir Punks gehören zur Kreis-Ordnungsgruppe des Kreises Großenhain. Ja, genau. Wir können damit Diskos durchführen und den Einlass selbst regeln. Im Gegenzug geht uns die FDJ-Kreisleitung nicht großartig auf den Kranz, lässt uns unser Ding machen. Das ist typisch für die DDR. Der Grat ist immer sehr schmal.

Wir bauen unseren Jugendklub. Und irgendwann ist auch die Eröffnung, der Bau fertig. Die FDJ will gratulieren zum Bau dieses wunderschönen FDJ-Jugendklubs und wird vom Bürgermeister mehr oder weniger vom Hof gejagt. “Ihr habt nichts dazu getan!” reicht ihm als Begründung.

In diesem wunderschönen Jugendklub verbringen wir die Abende, trinken Bier, hören Musik, rauchen und machen Unfug. Und wir kommen wieder auf das Thema Band zu sprechen. Der Entschluss ist gefasst. Jeder kauft sich ein Instrument und wir probieren es mit richtiger Mucke. Mir kommt die Aufgabe zu, Schlagzeug zu spielen. Woher aber nun ein Schlagzeug bekommen, ich war ja noch Schüler? Nun, wir machen einen Lehrer in Großenhain ausfindig, der hat ein Schlagzeug - halbwegs komplett - zu verkaufen. 500 Mark Ost will er haben. Ein Kumpel hat ein Auto, einen uralten Skoda Octavia. Wir fahren nach Großenhain und kaufen das Schlagzeug, sponsored by Mama & Papa.

Ein paar Tage später haben alle ihre Instrumente: wir haben neben einem Schlagzeug noch eine Bassgitarre, eine E-Gitarre und eine Orgel. Kann losgehen.

Wir spielen Probe auf Probe, und tatsächlich wird es irgendwie. Der Sänger singt besser, der Gitarrist spielt besser, der Schlagzeuger findet den Takt. Wir wollten Punk und lieferten Punk. Dahingerotzten, falsch vertonten, puren Punk. Wir sind so stolz, dass wir uns vom Bürgermeister den Schlüssel zum im Schloss befindlichen Speisesaal besorgen, wir dürfen da ein kleines Konzert geben, aber bitte nicht vor zu vielen Leuten …

Im Winter 88/89 spielen wir unser erstes und einziges Konzert vor Publikum, ca. 40-50 Leute haben den Weg zu uns gefunden. Wir sind alle glücklich, es fließt Bier in Strömen. Legendär!

Wir ecken damit auch an. Es gibt einen alten und einen jungen ABV (Abschschnittsbevollmächtigter, so eine Art Blockwart in Uniform) - Vater und Sohn. Der Alte mag uns gar nicht. Der Junge ist auch ein Arsch, aber nicht ganz so penetrant und stinkig wie sein Vater. Als wir eines Tages ne Sause im Klub machen, ist ABV Sohn auch mit von der Partie. Unser Jugendklubchef steigt noch rotzbesoffen in seinen himmelblauen Trabant 601 S ein um nach Hause zu fahren. Der ABV kloppt ihm aufs Dach und schreit - ebenfalls komplett dicht - “XY, gomm gud heem” (XY, komm gut nach Hause). Vater ABV hätte uns dafür allesamt bei Wasser und Brot in den Kerker geworfen.

Und dann ist Pfingsten. Pfingsttreffen der FDJ in Berlin. Wir sind Ordnungsgruppe, und bekommen den Befehl, in Berlin eine Schule 4 Tage lang zu bewachen. Da schlafen die delegierten Pioniere und Jugendlichen, und unsere Aufgabe ist es, eine Art Wachschutz zu stellen. Mein Lehrbetrieb will mich nicht gehen lassen, die Kreisleitung Großenhain interveniert, und ich bekomme die zähneknirschende Freigabe Wir sind 6 oder 8 Leute aus unserer Gang, und fahren so wie wir Punks immer rumrennen nach Berlin. Lederjacke, Schnürstiefel, aber Irokese auf Halbmast. In Berlin bekommen wir die Armbinden, welche uns als Ordnungsgruppe mit besonderen Privilegien ausweisen, und wir bekommen die begehrten Essensmarken. Diese kann man in Berlin gegen alles eintauschen, auch gegen Kippen und Alkohol. Wir verbringen 4 geile Tage in Berlin, leben wie die Götter, und erfüllen unsere zwei gestellten Aufgaben: Objektbewachung, und am Tag der großen Parade schauen, ob man das Banner der Kreisgruppe Großenhain in der Fernseh-Liveübertragung sehen kann. Mit einer Kiste Bier setzen wir uns vor den Fernseher. Wir haben die Kreisgruppe natürlich "gesehen" …

“Echt, kein Mist?”

“Ja, ihr wart deutlich und lang zu sehen …”

Der Kreisgruppenleiter ist glücklich, prüfen kann er es so oder so nicht..Wir fahren heim, ich komme nach 4 Tagen endlich aus den Schnürstiefeln raus - mit allen geruchstechnischen Konsequenzen. Ist aber egal, denn unser verlängerter Wochenendausflug auf Kosten der FDJ war einfach nur endgeil. Erstmal pennen gehen …

Im Sommer 89 passiert viel im Ostblock. Ungarn öffnet seine Grenze zu Österreich, in Prag wird die Botschaft der BRD gestürmt von lauter ausreisewilligen Ossis. Reisefreiheit gab es in der DDR für Normalbürger nicht. Ein bisschen Warschauer Pakt, aber alles andere nur, wenn man privilegiert ist. Das Klima in der DDR wird auch rauher, die Stasi agiert härter, die Bullen sind in Daueralarmbereitschaft. Mitten in dieser Zeit tritt ein Mann auf den Balkon der Botschaft in Prag und verkündet den Flüchtlingen, “dass heute Ihre Ausreise...”. Genschers Worte gehen im Jubel unter. Die DDR-Behörden drängen aber darauf, dass die Züge das Gebiet der DDR befahren müssen, damit die Flüchtlinge über einen Grenzübergang der DDR ausreisen. Die Züge fahren durch Dresden.

Ich erlernte damals den Beruf Koch in Dresden auf der Prager Straße. Sprich: neben dem Hauptbahnhof. Als die Züge durch Dresden fahren sollen, sammeln sich Tausende am und im Bahnhof, und eben auch auf der Prager Straße. Es gibt Scharmützel mit der anwesenden Bereitschaftspolizei, ein Polizeiauto brennt. Der Bahnhof wird abgeriegelt. Die darin befindlichen Leute sind gefangen.

Zeitgleich gehen jeden Montag in Leipzig und anderswo Tausende Leute zu den Montagsdemos, den echten Montagsdemos. Die Stimmung ist aufgestachelt in diesem Herbst 89.

Und weil die Stimmung so ist, wie sie ist, kommen die Leute am nächsten Tag wieder an den Bahnhof in Dresden. Und es geht immer hin und her zwischen Polizei und Protestierenden. Leute werden “zugeführt”, sprich in die Stasi-Zentrale an der Bautzner Straße geschafft. Ich habe Glück und kann einer Verhaftung entgehen.

Dann ist es der 30.9.1989. Wir fahren in die Werner-Seelenbinder-Halle nach Berlin, denn da wird die Creme der ostdeutschen Punkbands ein Festival veranstalten. Während des Konzerts rennt die Sängerin Tatjana Besson der Band Die Firma mit einem Neues Forum Shirt auf der Bühne rum und ist dann irgendwie auf einmal verschwunden. Im Publikum landen Flugblätter einer Resolution, verfasst von diversen Musikern. Dass die Besson später als IM (Inoffizieller Mitarbeiter) enttarnt wurde, ist ein nachdenklich machender Umstand. Im Nachgang zum Konzert wurde auch bekannt, Tatjana Besson hat die Aktion mit dem Shirt als Agent Provocateure der Stasi durchgezogen. Das macht nicht mehr nur nachdenklich, sondern wütend! Übrigens habe ich damals auch Teile der späteren Formation Rammstein auf der Bühne gesehen, wieder als Die Firma. Dass daraus später mal eine der erfolgreichsten deutschen Acts entstehen würde …

Das Neue Forum darf als eine der Keimzellen des bürgerlichen und intellektuellen Protests in der DDR-Wendezeit gelten. Es wurde sehr schnell verboten, und was verboten ist, ist cool. Wir machen uns also NF-Zeichen an die Lederjacken, aus Sicherheitsnadeln zusammengesteckt.

Eine Woche später hat die DDR ihren 40. und auch letzten Geburtstag. Aber dass es der letzte sein würde, wussten wir zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht.

Der Jahrestag wird gefeiert. In Berlin bekommt Honecker Besuch von Gorbatschow, und in Schönfeld wird der Speisesaal zum Festsaal. Saufen mit Musik, Bier für die FDJ-Ordnungsgruppe ist frei, geht los. Im Suff fangen wir an, kleine Schilder auf die Tische zu verteilen, auf denen Neues Forum und allerhand andere “staatszersetzende” Parolen stehen. Wir sind zu besoffen, um unser Tun korrekt einzuschätzen. Die Quittung bekommen wir am Montag, dem 9. Oktober.

Ich bin 17 Jahre alt, und besitze eine himmelblaue MZ ETZ 125. Und ich habe frei und will einen Kumpel von der Polytechnischen Oberschule in Schönfeld abholen. Ich parke vor der Schule ein, schick mit Lederjacke, und dem NF-Zeichen am Oberarm. Ein dicker, schmieriger Mittvierziger kommt auf mich zu, Er hat fettige Haare und stinkt aus dem Mund. Er hält mir einen Dienstausweis unter die Nase und sagt

"Kommen Sie mit zur Klärung eines Sachverhalts!”

Stasi.

Im Büro des Schuldirektors werde ich zwei Stunden lang verhört von zwei Stasi-Offizieren.

"Haben Sie die NF-Schilder auf die Tische der 40 Jahre DDR Feier aufgestellt?”

“Ja, da habe ich mitgemacht”

“Wer noch?”

Ich nenne ein paar Spitznamen aus meiner Gruppe. Wir hängen so oder so immer zusammen rum, und so wie die fragen, wissen die das auch alles schon. Und der Druck, den die Stasibüttel auf mich als ja immer noch Minderjährigen aufbauen, ist enorm. Ich unterschreibe das Geständnis. Der Typ fragt nach meinem Spitznamen. Mülltonne

“Ach, Sie sind das also”

Ich bin baff, dass die meinen Spitznamen in ihren Akten haben, bin auch ein wenig stolz, und mir wird klar, dass es jemanden in der Gruppe geben muss, der denen das erzählt hat. Der Kumpel, den ich abholen wollte, teilt mein Schicksal in einem anderen Raum der Schule. Wir dürfen aber beide gehen, denn nach geltendem Recht hätten die uns nicht verhaften dürfen. Selbst das Verhör war nach geltendem Recht wohl nicht in Ordnung. Wir waren noch minderjährig.

Meine Mutter war schon immer wie eine Löwenmutter, mit äußerst wenig Respekt, wenn jemand ihrem Schützling etwas Böses wollte. Sie hat sich also offiziell bei den DDR-Behörden über dieses Agieren beschwert.

In dem ganzen Hin und Her wurde aus der Stasi die NASI, das Amt für nationale Sicherheit. In Berlin hat man die Stasizentrale gestürmt und die weitere Vernichtung der Akten verhindert. In dieser wilden Zeit hat auch unser Dorfbürgermeister interveniert, und so kam es zu einem merkwürdigen Gespräch im Besprechungssaal des Bürgermeisters. Da sitzen wir Punks, bei den Minderjährigen auch unsere Eltern, der Bürgermeister, der ABV, jemand von der FDJ-Kreisleitung, und zwei der Schmierlappen von der Stasi, die meinen Kumpel und mich festgenommen hatten.

Und die Schmierlappen entschuldigen sich für ihr Handeln …

Und dann kommt dieser 9.11.89. Wir sitzen im Jugendklub ein paar Orte weiter in Ebersbach. Da steht ein Fernseher mit West-TV. Und wir sehen, wie in Berlin die Leute durch die offene Grenze spazieren und feiern. Und wir beschließen, nach Berlin zu fahren. Wir steigen zu zweit am 11.11.89 in Großenhain in den Zug nach Berlin. Der ist rappelvoll. Wir finden einen Platz in der Pufferzone zwischen zwei Waggons. In Berlin fahren wir zur Friedrichstraße, und verlassen da die DDR in Richtung Westberlin. Die erste S-Bahn ist unsere, wir landen in Kreuzberg. Da holen wir uns bei einer Bank unsere 100 D-Mark Begrüßungsgeld. Wir latschen rum, schauen, und verlassen Westberlin wieder und fahren zurück nach Großenhain.

Ein paar Wochen später erzählt meine Mutter, jemand von der NASI wäre bei uns zu Hause gewesen und hatte meine Akte dabei. Er wollte sie gern in ihrem Beisein im Stubenofen verbrennen - alles gut, Friede, Freude, Eierkuchen. Meine Mutter hat das nach eigener Aussage abgelehnt und ihn der Wohnung verwiesen.

Wir fahren wieder nach Berlin, dieses Mal mit dem Auto. Wir haben diverses Westgeld dabei und wollen auf den Kudamm. In der Uhlandstraße gibt es einen Klamottenladen, und die haben Doc Martens 10 Loch. Ich kaufe mir Westschnürstiefel und bin stolz wie Bolle.

Am 17.12.ist der letzte Tag, an welchem man ein erweitertes Begrüßungsgeld 2 bekommen kann. In München gibt es statt 50 D-Mark satte 90. Einem Kollegen sage ich “Sag Bescheid auf Arbeit, ich komm morgen nicht”. Das ist zu dieser Zeit kein Problem, weil die Betriebe über jeden froh sind, der nicht in den Westen geht. Wir fahren am Tag davor in Dresden zum Hauptbahnhof, wo gegen Mitternacht der Zug nach München fahren soll. “Der fährt ab Neustadt”. Also mit dem Taxi zum Neustädter Bahnhof. Der Bahnsteig ist voll, der Zug auch. Der Schaffner auf dem Bahnsteig wird vollgedöst “hängt mehr Hänger dran”. “Wir haben schon 5+”. Wir finden ein Dienstabteil, es ist leer. Es ist von der Gangseite abgeschlossen und man sieht durch das Fenster, wie sich im Gang hinter dem Abteil die Leute stapeln. Wir öffnen von außen das Schiebefenster und hangeln uns hinein. In dem 6er-Abteil sind wir 9 oder 10 Leute. WIr jungen Rotzer haben auch einer Oma und einem Opa hinein geholfen. Die teilen mit uns dafür Schnitten und Kaffee. Wir werden 17 Stunden bis München brauchen. Irgendwann muss man Pinkeln. Wir brechen die Abteilstür auf. Irgendwie quält sich der Schaffner durch die Menschenmenge und sieht den Zustand seines Dienstabteils. Er … sagt nichts, denn es ist ihm so klar wie uns, dass wir hier keine Konsequenzen zu befürchten haben, egal wie sehr er sich aufplustert. Der wilde Osten … Zu dieser Zeit war er genau das. Ein rechtsfreier Raum. Wir kommen eine Stunde vor Bankschalterschluss in München an, und haben auch nur Zeit, die Kohle zu holen, dann geht es schon wieder heim. Ja, all den Kram für 40 Mark extra. Aber so war das eben damals.

Unsere Band fällt auseinander in den Wendewirren. Einige gehen in den Westen, andere wechseln die Farbe der Schnürsenkel von rot-schwarz auf Doppelweiß. Pudding mit Sirup ist Geschichte, und ich habe keinen meiner Bandkollegen je wiedergesehen.

Im Jahr 2008 mache ich mich auf zur Stasi-Unterlagenbehörde, denn ich bin doch neugierig. Ich stelle meinen Antrag, und die Dame meint noch, dass sie darauf wetten würde, dass es keine Akte mehr gibt. Ich habe ihr beim Antrag auch die Geschichte mit unserem Stubenofen erzählt, und da waren wir wohl nicht die einzigen. 12 Monate später erfahre ich folgendes:

Ja, es gibt eine Akte. Die Stasi hat diese Akte aber an die Kriminalpolizei übergeben, laut Registervermerk. Zum einen ist die Polizei nicht vom Stasiunterlagengesetz erfasst, zum anderen gibt es die Akte auch mit einer gewissen Sicherheit da nicht mehr.

Es gibt eine Restchance, dass sich doch noch etwas anfindet, und ich könne alle paar Jahre einfach erneut Einsicht beantragen, sagt mir eine nette Frau noch am Telefon.

Was ich aber weiß: wir haben den Maulwurf in unserer Gruppe gefunden. Es hatte für ihn aber keine Konsequenzen, warum auch. Ich hätte in dem Verhörraum auch eine IM-Vereinbarung unterschrieben, wenn die mich dazu zwei, drei mal gefragt hätten. Man kann sich als Außenstehender nicht vorstellen, welch ein Druck in so einem Verhör auf einen aufgebaut wird. Und ich hatte nur ein Verhör. Viele Stasiopfer hatten etliche davon, über längere Zeiträume hinweg inkl. Folter wie Schlafentzug etc. Also: richtet nicht vorschnell über Ex-IMs.

Und wir haben herausgefunden, wer uns an diesem 7.10.89 verpfiffen hat bei der Feier. Es war ein Deutschlehrer aus der Schule im Ort. Der hatte zu Hause einen wunderschön geschnitzten Briefkasten. Wir haben uns gerächt, indem wir den Briefkasten gesprengt haben. Das ist lange verjährt, weswegen ich das heute hier aufschreiben kann.

Ja, das ist sie, meine Geschichte. Diese zwei Stunden Verhör bewegen mich manchmal heute noch - 33 Jahre darauf. Und trotzdem war diese hier beschriebene Zeit eine sehr aufregende und schöne Zeit meines Lebens.

Das Internet, Herbst 2022

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